24
Nov
2004

Literarischer Über- und Untergrund


«Ich schreibe dieses Prosastück, das mir hier entstehen zu wollen scheint, in stiller Mitternacht, und ich schreibe es für die Katz, will sagen, für den Tagesgebrauch. Die Katz ist eine Art Fabrik oder Industrieetablissement, für das die Schriftsteller täglich, ja vielleicht sogar stündlich treulich und emsig arbeiten oder abliefern.»
Robert Walser


Wer vom Buch – oder vom literarischen Text – als hoher Kunst spricht, darf vom Warencharakter nicht schweigen, am wenigsten die SchriftstellerInnen selber. Robert Walser, während den ersten gut 30 Jahren des letzten Jahrhunderts als Dichter tätig, wusste, was das bedeutet. Er macht aber auch auf wunderbare Art deutlich, was ihn dennoch antrieb. «Wer für sie, diesen Kommerziealisiertheitsinbegriff etwas tut, tut es um ihrer rätselhaften Augen willen.» Walser blieb, nachdem seine letzten Bücher Misserfolge gewesen waren, die Ersparnisse aufgebraucht und die Nazis die Presse gleichgeschaltet hatten, in der er bis dahin er seine Prosastücke noch hat unterbringen können, nur noch ein Weg: die «Versorgung» in seinen Heimatkanton Appenzell Ausserrhoden (Heilanstalt Herisau).

Blickt man zurück, hat Walsers Schicksal als Autor etwas unglaublich Traurig-Romantisches, es wird aber auch klar, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. Nichts liegt heute einem jungen Menschen ferner, – SchriftstellerInnen sind jung bis 40, Walser war es bis zu seinem Tod – sein ganzes Leben mit allen Konsequenzen der Katz vorzuwerfen. Man ist ja gewarnt. Endlich den Abschluss machen, einen Brotberuf ausüben, das geht vor, sagen alle. Aber wer besucht heute eine Dienerschule oder wird Gehülfe eines Erfinders und schreibt wundervolle Romane darüber? Und dennoch schreibt man. Auch du, mein Sohn. Du bist einer der zahllosen jungen Schreibenden, der einer Lesung entgegenfiebert, bis du dann am Abend spät feststellen musst, dass man dich nur engagiert hat, weil so viel Sex im Buch vorkommt. Geil. Und man sagt dir, dass du dich doch nicht so zieren sollst. Schöner sind die Auftritte an Vernissagen, an denen Künstlerinnen granitene Penisse – netter Plural! – zeigen. «An der Eichel hab’ ich eine Woche gefeilt», lässt die Künstlerin verlauten, ein gar seltsam Gefühl ergreift Besitz vom mir. Natürlich gibt’s bei den Vernissagen auch Musik. Nach dem zehnminütigen «Modern Talking»-Medley kann endlich die Lesung beginnen. Schon wieder vergessen, wer die waren? Schade, kein Adjektiv vermag es, diese Band zu beschreiben. Aus gegebenem Anlass will sich mein einziger Text zur Kunst lesen lassen. Er beschreibt eine Familie, bei der semi-pornographische Bilder im sogenannten Bügelzimmer hängen. Der Abend wird dann doch noch gut: Ich verkaufe drei Bücher, trinke viel Bier und erreiche den letzten Zug nach einem 15-minütigen Spurt durch Bern. Mit dem Geld verhält es sich übrigens so: Literatur ist heute eine solch hohe Kunst, dass es die meisten Menschen peinlich berührte, wenn sie dafür zahlen müssten. Walsers Katze lächelt nicht mehr rätselhaft – Marx meinte vielleicht Ähnliches wenn er von den metaphysischen Mucken der Waren schrieb – sondern nur noch schön und damit ein Bisschen einfältig. (Von den wirklich Bedürftigen rede ich nicht, die sollen die Bücher halt klauen, wenn’s nicht anders geht. Aber nur in den Grossbuchwarenhäusern wie ***, die machen sowieso die kleinen Buchhandlungen kaputt.) Leuten wie mir, die seit zehn Jahren schreiben, kommt ein Siebtel von 10% des Verkaufspreises einer Anthologie mit sieben AutorInnen, also 900.– Fr. wenn die ganze Auflage weg geht, wie das Paradies vor. Die selbe Summe verdient ein schlecht bezahlter Werbetexter in acht Stunden. Sie sind die Liter=Ratten mit Massenwirkung. Sie werden gelesen und ihre Botschaft wird sogar noch befolgt. Irgend so eine magersüchtige Ich-Erzählerin redet da vom höheren Sein durch die und die Getränkemarke oder das und das Modehaus. Einfach, klar schnörkellos. Und dabei ist nicht einfache nur Identifizierung wie im Groschenroman im Spiel. Die Botschaft ist schillernd wie ein Regenbogen: Mitleid, Begehren, Abscheu (meine Magersucht, mein Bierbauch! Scheisse!) werden provoziert, oder gar ein postmodernes Sinnieren über Werbung als letzte Kulturform ausgelöst. Doch niemand in den Feuilletons bezeichnet das wirklich als Literatur. Denn: wenn es Literatur wäre, würden die Leute sich weigern dafür zu zahlen, weil die Literaten schon fürstlich belohnt worden sind, als die Muse sie geküsst... Welch’ Aussicht! Keine Werbung mehr für sinnloses Konsumieren und schöne, graue Wände wie weiland in der DDR. Und bald geht das ganze kapitalistische System die Klospülung runter. Ja, jetzt passt ja noch der Einschub zum Thema «Underground» rein. Die Leute im Literatur-Underground sind die Oberliteraten, weil sie sogar noch für ihre eigenen Bücher zahlen. Sie lieben ihre Kunst, je weniger sie sich verkauft, desto mehr lieben sie sie. (Ich spreche aus eigener Erfahrung, jede Häme ist mir fremd.) Im Bereich der Popmusik haben sich im Laufe der 80er-Jahre Strukturen herausgebildet, die sich als unabhängig von grossen Business verstanden. Bands vertrieben ihre Platten selber, Labels arbeiteten nicht profitorientiert, hatten oft Inhalte zwischen Nihilismus und Kapitalismuskritik, bis halt der grosse Boom der «independent music» kam und damit der grosse Ausverkauf. In der Literatur ist von einem ähnlichen Beben nichts zu spüren, vielleicht ein leises Zittern im Wasserglas. Von den USA nach Germany and Switzerland rübergeschwappt ist die SLAM-Literatur. Sie ist mehr Performance als stilles Gedichte lesen mit sterbender Stimme. Zurück im Nachtleben – den illegalen Bars und dem deregulierten Gastwirtschaftsgesetz sei Dank – zeige sich auch das Publikum wieder. Dereguliert haben wir. Und es soll auch Leute geben, die Texte schreiben können, die dem Lärmpegel einer Bar widerstehen, ihn übertönen, oder gar als Beat mitbenutzen. Ich will nicht solcherlei Zeugs schreiben, das wär ja fast Techno, und ich habe vor zehn Jahren beschlossen, Techno zu hassen. Punkt. Auch meine Texte, die ja urbanes Lebensgefühl vermitteln, wie Blick und NZZ schreiben, gehen im Autolärm unten, wenn sie an Strassenfesten vorgetragen werden. Ich war ob dieses Misserfolges froh. Und eben meldet sich ein schöner Schlusssatz für diesen Text in mein nächtliches Hirn: Bei der Präsentation eines sogenannten «Underground»-Buches in einer grösseren Schweizer Stadt, sind die AutorInnen von Tisch zu Tisch mit einer Speisekarte gegangen, auf der die Geschichten verzeichnet waren. Mit einem Bückling, so stelle ich mir vor, danken die jungen, hoffnungsvollen Untergründigen für die Wahl und sagen dann ihr Ständchen auf. Es ist jetzt zwei Uhr nachts, ich liebe das langsame Verschwinden, Verschwimmen am Ende. Der Laptop schnurrt wie eine Katze, und eigentlich wäre es schön, mit einer Katze auf den Knien das hier zu schreiben, weil man so endlich einen Punkt setzen könnte, dann nämlich, wenn das herzige Büsi erst miaut, daraufhin faucht und die zarten Pfoten in mein Fingerfleisch haut: Fressen!

A Sick And Old Pamphlet Updated In November 04

Meine Stadt, meine Nacht

Überarbeitete Fassung des 2000 im Magazin der Zürcher Kantonalbank erschienenen Textes

Ein verfrühter Sommer ist eingefallen und lässt die Stadt schwitzen. Rosa Bratwurstpapier liegt im Rinnstein, schwer atmet die Langstrasse, die doch noch in einen kurzen Schlaf gefallen ist. Die letzten Roten Lichter gehen aus, eine zufällige Strasse mehr auf meinem Weg, ich bin nun eine halbe Stunde lang unterwegs – Richtung Morgendämmerung. Die Sternschnuppen im Herbst, das Nordlicht im späten Winter: so viele Gründe gäb’s, nachts das Bett zu verlassen. Natürlich sind die Nächte auf dem Land grösser, wo keine Strassenlampen blenden, keine Autos stören und auch die Kühe schlafen. Aus den einsamen Bündner Tälern blickten wir hinaus in die Unendlichkeit, zu Sternen, die längst tot, doch noch strahlten und funkelten. In Zürich stehe ich nicht gern auf in der Nacht – sogar im Sommer fällt es schwer. Wie Blei ist die Hitze. Man erhofft sich Regen und tausend Tode sollen die Mücken sterben. Bin ich aber einmal draussen, machen sich die Füsse selbständig. Fast glaube ich, die Augen schliessen zu können mitten auf der Strasse, ohne Angst. Die letzten Taxis sind gefahren, der letzte Imbiss um vier Uhr morgens gegessen. Der Text liest sich so, als gäbe es die moderne tanz- und festfreudige Jugend nicht, die sich rund um die Uhr erhitzt, wieder auskühlt und erneut aufpeitscht. Es ist aber wahr: Heute treffe ich keinen von denen – lassen wir sie in den Betonbunkern eingesperrt und gehen schnell weiter. Noch immer sind Steine, Beton und Asphalt warm – der Sommer hat sich in jede Ritze eingebrannt. Von den Dächern und Balkonen dringt der Schlaf schwerer massiger Männer – doch ich sehe nur eine Deutsche Dogge mit halboffenem Maul… Vor den verschlossenen Toren des Schulhofes warten jetzt schon die ersten Händler mit ihrem Trödel, stelle ich mir vor und schliesse die Augen – ich meide den Flohmarkt seit ich dort immer wieder alte Schreibmaschinen finde und nicht anders kann, als sie zu kaufen: Zwei Hermes Baby, eine Olivetti Lettera, eine Remington Monarch. Das sind die Zauberwörter, Zaubermaschinen. Ein leeres Blatt eingespannt, einen Satz von Max Frisch getippt oder eine Erinnerung an die Hermes Baby meines Grossvaters. Ganze Schlachtfelder entstanden dort auf dem Papier. Kompanien stramm ausgerichtet, die Sterne an der Brust des Generals und die Federn auf den Köpfen der Krieger. Gewehre und Streitäxte wirbelten wild herum. Die kleinen Köpfe und Leiber, die «os» und «Os» rollten und manchmal klagten die Indianer unverständliche Lautfolgen… «qwert», «ghjk», «xcvbnm». Ich konnte nichts schreiben als meinen Namen. Den setzte ich, wenn alle tot waren, unten aufs Blatt: «FELIX» der letzte Überlebende, der letzte Mohikaner.
Ich höre nur noch Tiere: Vögel, Hunde, Igel. Keine Menschen mehr. Ich gehe und schlafe gleichzeitig, habe keine Angst mehr vor den Autos. Ich werde mich langsam in den See fallen lassen, noch bevor die ersten Sonnenstrahlen aufs Wasser treffen, stelle ich mir vor. Auch den Paradeplatz überquere ich mit geschlossenen Augen. Die Tonnen Gold unter mir ziehen meine geringe Masse an sich. So schwer, so schwer... Genau so stelle ich mir den Eingang zum Jenseits vor: Der sagenhafte König Midas, der alles, was er berührte in Gold verwandelte und daran zugrunde ging, sitzt am Schalter, legt fürsorglich den Arm auf die Schulter und fragt nach den Wünschen der armen Seelen... hat man gewählt, so steigt man tiefer und tiefer hinab, bis das edle Metall zu schmelzen beginnt. In eine hübsche kleine Formen gegossen und erkaltet finden sich die Wiedergeborenen im Himmel der Schweiz. Eine Hölle gibt es nicht, und leider machen sie die Typen der Schreibmaschinen nicht aus Gold.
Vor gut hundert Jahren ist man in gewaltigen Spaziergängen von Zürich in den Berner Jura oder nach Genf marschiert. Die enge Spiegelgasse hinab, noch bevor Lenin nach Russland aufbrach und die Dadaisten die Sprache und die Kunst revolutionierten, eilten die Wanderer auf ihren genagelten Schuhen. Und weiter durch die in den Wald hineinverwachsenen Aussengemeinden und auf das flache Land hinaus. Wer auf einem Spaziergang stirbt, wird ein wandelnder Geist, sagt der Volksmund. Wer von Schnee bedeckt und mit lächelnden Lippen einschläft, wird nimmermehr sterben, sondern in den Köpfen weiterspuken.
Mich wundert gar nichts mehr. Die Lindenbäume duften und niemand pflückt die Blüten. Das Wasser des Sees ist still. Behutsam entkleide ich mich. Keine Menschenseele sieht mich. Manchmal durchstreift man die Stadt auf der Suche nach seiner Liebsten, vermeint ihren Schlaf zu hören, horcht angestrengter und lässt sich dann mehr traurig und verliebt als froh in den See gleiten. Doch heute ist es so schön, so wunderschön, dass ich nicht einmal mehr weiss, ob ich schwimmen kann. Ich lasse mich nur treiben auf dem Rücken, zuerst unter mächtigen Bäumen, dann nur noch den offenen Himmel über mir... und warte auf das lang, lang ersehnte Gewitter. Als von weither ein Käuzchen schreit, sehe ich, wie sich die erste dunkle Wolke über mich schiebt. Die Stadt wird wieder erwachen.
Night of the living dead

lieber epper als niemert

Betrachtungen. Manchmal Urteile.

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Kafkas Reisetagebuch, Paris, 11. September 1911. «Auf...
noemix - 4. Nov, 11:44
Merci beaucoup! A suivre...
Merci beaucoup! A suivre ici: https://epper.twoday.net/st ories/1022422362/
Epper - 23. Apr, 18:51
Bis vor kurzem war ich...
Bis vor kurzem war ich der festen Überzeugung, dieser...
froggblog - 2. Apr, 17:34
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Lieber nicht leben wie der Panther. Diese pathetische...
froggblog - 14. Okt, 20:39

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