Schreiben am Jurasüdfuss
Eine Spurensuche
Kaum eine Schweizer Landschaft ist derart Literatur geworden wie die Gegend zwischen dem Bielersee und der Eisenbahnerstadt Olten. Der Schriftsteller und Verleger Otto F. Walter hat den Begriff «Jurasüdfuss», als den Ort einer Literatur vom Rande her, begründet. Schon in seinem Erstling «Der Stumme» (1959) erfindet er Jammers, einen fiktiven Ort, wirklicher als die Wirklichkeit. Auch Peter Bichsel und Gerhard Meier sind keine Dokumetaristen, ihre Arbeit gilt in erster Linie der Sprache. Aber kann man sie sich anderswo als in Olten, Solothurn oder Niederbipp, diesem «Zentrum der Welt», wie Meier immer wieder schreibt, vorstellen? Eine – nicht nur in der Auswahl der Autoren – höchst subjektive Gedankenreise auf Papier von Felix Epper, Schriftsteller und Wahlsolothurner, die vielleicht Lust auf literarische (Wieder)Entdeckungen macht.
I
In Solothurn kam ich lesend an. Immer lesend. Die Eisenbahnfahrten von Gossau oder Zürich nach Genf und zurück reichten gut für ein Buch. Fast jede Woche zweimal dem Jura entlang auf der Durchreise den Flüssen und langgezogenen Seen – die für mich etwas Urzeitliches oder Schottisches hatten – entgegen- und darüber hinaussehnend. Vor allem bei sogenannt schlechtem Wetter vernebelte es einem die Sicht: alles mögliche Getier konnte sich nun aus den Fluten schlängeln. Aber sanft ronnen die Wassertropfen auf den Scheiben der zweiten Klasse. Ausgestiegen bin ich nie in Solothurn – jahrelang hielt ich es so. Was sollte ich auch? Meine Liebe war in Genf. Ich wusste: Peter Bichsel stand mit dem Kursbuch in der Hand am Perron 1 des Bahnhofs Solothurn. Es genügte zu wissen: Mit abgewetztem Jackett und wilder Mähne spielte er den «Mann mit dem Gedächtnis». So erinnere ich mich heute, wie ich mich damals an den Umschlag der «Kindergeschichten» erinnerte, wenn mein Zug in Solothurn hielt. Es soll Leute geben, die aus dem Ausland anreisen, um Bichsel am Stammtisch seiner Lieblingskneipe vor einem Glas Rotwein anzutreffen. Das mag wahr sein.
Zufälligkeit des Ortes: «Heimat ist hier dasselbe wie bei uns, das ist schön», schrieb Bichsel einmal nach einem Besuch an einem Ort irgendwo auf der Welt. Wenn eine Liebe zerbricht – wie meine Liebe in Genf nach hundert Büchern und Bahnfahrten zerbrochen ist – ist man überall gleich heimatlos. Besonders schmerzvoll: das Unterwegssein und das Alleinsein unter Menschen. Nur mehr Sackgassen und kein Halt mehr für zwei Minuten in Solothurn. Alles wieder lernen und vielleicht neu ankommen. Vielleicht in Solothurn. Vielleicht in Solothurn bleiben.
II
Wer ist nicht mit Bichsels Geschichten gross geworden? Ich erinnere mich: Es brauchte zuerst Überwindung, die Exlibris-Ausgabe der «Kindergeschichten» (1969) in die Hand zu nehmen mit vierzehn. Man war ja kein Kind mehr, glaubte den Titel wortwörtlich verstehen zu müssen, hatte 50 Bände Jules Verne ausgelesen, las nun, was im Bücherschrank der Eltern stand. Vor allem Buchclub-Ausgaben: Nebst Trivialem auch Alfred Andersch oder Patricia Highsmith. Günter Grass’ «Butt» und John Steinbecks «East of Eden» verstörten den Pubertierenden: glühende Nadeln durch Brustwarzen gestossen in den kalifornischen Freudenhäusern. Möglich, dass sie nicht glühend sind bei einer erneutem Lektüre, aber noch immer ist dieses Brennen untrennbar mit dem Buch und der Zeit verbunden. «Lesen ist subversiv», sollte ich später bei Bichsel, dem gescheiterten Fussballer nachlesen. Es mache einen untauglich für den Alltag. Er hatte recht.
Die «Kindergeschichten» las ich dann doch. Ich bekam sie zusammen mit Bichsels Erstling, «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» (1964) vom Vater eines Freundes geschenkt. Jener war Chefredaktor grosser Zeitungen gewesen und deshalb ein verlässlicher Ratgeber, was Literatur angeht. Bichsel war kein Kinderbuchautor. Es kam mir auch ein Aufsatz Bichsels in die Finger, der von ersten Lektüreerfahrungen berichtete und ich fing wieder Feuer, kramte wie mit acht Jahren auf dem elterlichen Estrich in den schmutziggrünen Schachteln mit fingerdickem Staub und fand zum Beispiel die kleine Bibel in Fraktur und eine noch kleinere Weltgeschichte aus dem 19. Jahrhundert. Beide Bücher begannen vor wenigen Tausend Jahren mit Adam und Eva ¬– Gott in seiner Allmacht faltete persönlich die verschiedenen Juraketten und lenkte die Aare in ihre Bahn. Diese Geschichten waren dem Kind, das eben erst die Buchstaben gelernt hatte, genauso wirklich wie die Griechischen Mythen oder die Tafel mit den Fabelwesen aus dem Lexikon, das ich auch noch nach dem tausendsten Male gebannt aufschlug. Angst machte vor allem der Lindwurm, der sich nachts am Brunnen vor dem Tore versteckte. Und ich träumt’ in seinem Schatten gar manchen bösen Traum. Ich verbannte den Lindwurm später in den Toteissee (auch den fand ich im Lexikon). Schutt lagert sich ab auf einem verlorenem Stück Gletschereis und immer wieder wird die Weltgeschichte aufgeführt, bis das Eis geschmolzen, der Schutt abgesunken und sich der See gebildet hat. Der Burgäschisee ist ein Toteissee. In Bichsels Geschichten heissen Seen meist Seen und Kneipen Kneipen, der Weissenstein ist der Berg, «Amerika gibt es nicht» und «Ein Tisch ist ein Tisch».
Die erste Begegnung mit Bichsel muss früher gewesen sein. Es war in der fünften oder sechsten Klasse, als wir «Ein Tisch ist ein Tisch» gelesen haben. Doch zu dieser Zeit schwieg man, wenn Begeisterung aufkam beim Lesen oder Zuhören. Ich war nicht der letzte auf der Bank, wenn die Kapitäne die Fussballmannschaften zusammenstellten, und ich wollte es bleiben. Das war Verrat an unserer Lehrerin. Wie konnte man ihr nicht danken für Tetzners «Schwarze Brüder», für Borcherts «Küchenuhr» und für Brechts «Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration»?
Als ich die «Milchmann-Geschichten» gestern wieder las – viel zu schnell, immer viel zu schnell - schien sich ein Nebel zu senken, unendliche Traurigkeit bemächtigte sich meiner und ich erinnerte mich an die Sonnenstrahlen im Schulzimmer der fünften oder sechsten Klasse, wenn Frau Cao mit ihrem wunderbaren bündnerisch gefärbten Hochdeutsch vorlas. Auch bilde ich mir ein, ich hätte Spuren von Tränen in ihrem Gesicht gesehen. Bichsel spricht in einem Aufsatz vom «süssen Gift der Buchstaben», Lesen ist für ihn eine Droge, Leseförderungsmassnahmen in Schulen seien deshalb höchst fragwürdig. Er hat Recht. 19 von 20 Schülern verstehen kein Wort und einer verliebt sich wegen Brecht oder Bichsel. Das konnte nicht gut kommen.
Es kam nicht gut, und so kommen wir ¬– immer noch im sanktgallischen Gossau – auf Gerhard Meier, der erst spät, nach Jahrzehnten Arbeit in einer Lampenfabrik, sich Zeit zum Schreiben nehmen konnte. Es war der Titel des Romans «Toteninsel», der mich auf Meier aufmerksam machte. Die Reproduktion von Böcklins Gemälde an der Wand in Grossvaters Mal- und Zeichenzimmer mochte schlecht sein, ein Kind noch nichts begreifen von Allegorien. Aber man sah: die Überfahrt im Kahn führte in ein wundersames Dunkel, das nicht nur Nacht und Ende war. In Grossvaters kleinem gelbem Renault war man sicher und im Wald erklärte er uns die Pilze. Reizker und Stäubling, Maronenröhrling und Hallimasch.
Gleich nach dem Abschied von der Primarschule und mit der Pubertät gerieten meine Knie aus dem Leim und die verordnete Ruhe wurde mir zur Verdammnis. Einen Sommer lang lag ich still im abgedunkeltem Zimmer – natürlich muss hier alles Körperliche übertrieben werden, um nicht 1000 Worte über eine verletzte Seele schreiben zu müssen. Nichts schmeckte mehr, am wenigsten Bücher. Und die Waldgänge zu Grossvaters Pilzen waren auf einmal schal geworden, die «Toteninsel» im Mal- und Zeichenzimmer verblich. Kurz darauf sind auch die Ölfarben auf dem Pult eingetrocknet und die Bleistiftskizzen auf der Leinwand waren fortan nurmehr Schatten einer vergangenen Zeit. Ich hatte Grossvater nicht mehr oft besucht in diesen Tagen und fühlte mich auf eine Art schuldig an seinem Schlaganfall. Alle Verwandten und Freunde sprachen von einem «Schlägli». Ich hasste dieses Wort, das Schmerz und Trauer und vor allem den Tod verhöhnte. Wenn ich an den grossen Niederbipper Schriftsteller Gerhard Meier denke, sehe ich immer meine Grossväter wandern und ich stelle mir mich selbst als alten Mann vor. Wenn ich «Ob die Granatbäume blühen» (2005)– Meiers Vermächtnis an seine Frau Dorli – lese, kommt es mir vor, ich kennte ihn schon immer. Es scheint mir dann, es wäre sogar möglich wieder eine Religion zu finden.
Das «Schlägli» lähmte meinen Grossvater nur eine Körperhälfte, sein Verstand wäre noch da gewesen und ich alt genug für eine Zwiesprache über die Lebenskunst. In Gerhard Meiers Büchern sprechen die Geister, die toten Freunde erinnern die Überlebenden an die Wortwechsel vor Jahrzehnten, die Kirschbäume blühen; die Spaziergänge von früher werden wieder und wieder abgeschritten, an der Aare, in Gedanken und auf Papier. Prousts, Tolstojs und Robert Walsers Geister wandern mit. Und auf den Wegen am Jurasüdfuss erscheinen im Sonnenlicht immer und immer wieder die Birken aus den russischen Weiten. «Die Welt existiert erst, wenn sie formuliert, in Sprache gefasst, vorliegt», schreibt Meier im Roman. «Land der Winde» (1990).
Robert Walser war um die Jahrhundertwende (1899 bis 1900) übrigens auch in Solothurn, als Angestellter der Solothurner Hilfskasse. Die erste Gedenktafel für Walser ist nicht in Berlin, Zürich, Bern oder Herisau angebracht worden, wo er weit mehr Furore machte, sondern an der Gurzelngasse 16. Für mich ein schwerwiegender Grund, Solothurn zu lieben. Walser liebte abrupte Überleitungen, und wir müssen jetzt überleiten, nämlich zu Otto F. Walter.
«Die Rache / Der Sprache / Ist das Gedicht.» Natürlich ist auch dieses Gedicht von einem «Jurasüdfuss-Autor», nämlich vom Österreicher Ernst Jandl. Jandls skandalumwitterter Lyrikband «Laut und Luise» erschien 1966 im Walter-Verlag, Olten. Er begründete Jandls Ruhm, führte aber auch zu Otto F. Walters Rauswurf aus dem Verlag, der seinen Namen trug, in dem er als Herausgeber des literarischen Programms aber faktisch keine Macht hatte.
III
«Die ersten Sätze eines Buches sind für den, der sie schreibt, vergleichbar mit den ersten Schritten eines Mannes in ein sehr weit sich dehnendes Waldgebiet. […] auf seinem Gang ins Weglose trifft der Waldgänger gelegentlich auf die Fährte eines anderen.»
Otto F. Walter hat nach seinen frühen beiden Romanen «Der Stumme» und «Herr Tourel» (1962) vor allem als Verleger gewirkt. Er landete 1964 einen Sensationserfolg mit Peter Bichsels «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» und machte den Walter-Verlag zu einer der ersten Adressen deutschsprachiger Autoren der Moderne (darunter die Schweizer Jörg Steiner, Kurt Marti und Ludwig Hohl). Er wechselte 1966 nach seinem Rauswurf zum Luchterhand-Verlag. In den 70er-Jahren widmete er sich dann ganz dem Schreiben. 1998 erschien von Martin Zingg ein wunderbares Buch mit Gesprächen, «Otto F. Walter über die Kunst, die Mühe und das Vergnügen, Bücher zu machen». Vier Jahre nach Otto F. Walters Tod, schrieb Zingg im Vorwort, sei dessen Verlegertätigkeit weitgehend vergessen. Walter werde nur noch Schriftsteller wahrgenommen. Nochmals sieben Jahre später blättert man das vollständige Verlagprogramm des Rowohlt-Verlags durch und findet gerade noch zwei Bücher von Otto F. Walter. Wie sein in schwieriger langer Freundschaft verbundener – und auch politisch ebenso engagierter – Widersacher Niklaus Meienberg scheint Walter ein Autor einer vergangenen Epoche geworden zu sein. Wer das Glück hat, Walter wieder zu lesen, findet das unverständlich. In jedem Werk wird wieder neu mit Sprache experimentiert. (Sehr gewagt in «Die ersten Unruhen» von 1972, wo Walter versuchte ohne Hauptpersonen auszukommen und einen Roman aus allen möglichen Genres von Textensorten montiert.)
Otto F. Walter war ein grosser Vermittler von Literatur; er hat immer wieder diese Fährten aufgezeigt, nun ist er selbst ein wieder neu zu entdeckender Waldgänger nicht nur als Schriftsteller oder Verleger, sondern auch als Vordenker einer anderen Welt. Schon in den 50er Jahren engagierte er sich (nota bene als einziger Offizier der Schweizer Armee) in der Anti-Atom-Bewegung. Und er war einer der wenigen wirklich politischen Schriftsteller der Schweiz. Seine Romane aus den siebziger Jahren sollten Möglichkeiten eines anderen Lebens aufzeigen. In der «Verwilderung» versuchen junge Leute, eine Wohn- und Produktionskooperative als Keimzelle einer befreiten Gesellschaft zu errichten. «Die Verwilderung» wird – zusammen mit Rolf Niederhausers dokumentarischen Roman «Das Ende der blossen Vermutung» über die Anfänge der Genossenschaft Kreuz Solothurn, der zur selben Zeit herauskam –, vielleicht in einigen Jahren oder Jahrzehnten wieder von jungen Leuten gelesen, die ihre ganz eigenen Ideen und ein neues politisches Engagement daraus ziehen werden.
Walter ist – ohne dass ich ihn persönlich kennengelernt hätte – eng mit meiner politischen Biographie verknüpft, die im Nachhinein betrachtet zwischen den Stühlen verlief. Nach Kaiseraugst und den Jugendunruhen war in den späten 80er-Jahren eigentlich Entpolitisierung angesagt. Wir damals Engagierten haben das Scheitern der Utopien von Selbstverwaltung und der ökologischen Bewegung immer schon mitgedacht in unserem Tun. Diese wunderbare romantische Anmassung der Idee, die Armee abzuschaffen! Noch einmal gewaltfreien Widerstand leisten gegen einen sinnlosen Waffenplatz!
Otto F. Walter war einer, der sehr viel später als zum Beispiel Max Frisch die Grenzen der Möglichkeiten der Literatur, politisch Einfluss zu nehmen, gesehen hat. Jedes seiner Bücher ist ein neues Wagnis und einzigartig in Form und Inhalt und widerspiegelt die Zeit. So scheint es folgerichtig, dass Walter nach dem weit ausholenden Gesellschaftsroman «Zeit des Fasans» (1988) in seinem letzten Buch «Die verlorene Geschichte» (1993) wieder eine ganz neue, vermeintlich einfache Sprache und das einfachste, schwierigste Thema überhaupt, die Liebe, findet.
Ebenso berührend wie beängstigend ist «Die verlorene Geschichte». Dem Eisenleger Paul «Polo» Ferro, der am Schluss nur töten kann, wen er liebt, gibt Walter eine Stimme, eine Sprache, nahe am inneren Monolog, verstückelt und gewalttätig, atemlos und zärtlich. Und wieder wie in fast allen Büchern Walters spielt diese verlorene Geschichte an der Aare. An der Aare, die zum Mekong wird, der den Jurasüdfuss entlang fliesst. Weil es die Liebe zum Mädchen Thai ist, die Polo verwandelt, verwandelt und verzaubert sich auch die Welt und wenn es nur für Augenblicke ist…
Erschienen Dezember 2005 in: Leben am Jurasüdfuss, herausgegeben von Daniel Gaberell, gab-Verlag, Bern.
Kaum eine Schweizer Landschaft ist derart Literatur geworden wie die Gegend zwischen dem Bielersee und der Eisenbahnerstadt Olten. Der Schriftsteller und Verleger Otto F. Walter hat den Begriff «Jurasüdfuss», als den Ort einer Literatur vom Rande her, begründet. Schon in seinem Erstling «Der Stumme» (1959) erfindet er Jammers, einen fiktiven Ort, wirklicher als die Wirklichkeit. Auch Peter Bichsel und Gerhard Meier sind keine Dokumetaristen, ihre Arbeit gilt in erster Linie der Sprache. Aber kann man sie sich anderswo als in Olten, Solothurn oder Niederbipp, diesem «Zentrum der Welt», wie Meier immer wieder schreibt, vorstellen? Eine – nicht nur in der Auswahl der Autoren – höchst subjektive Gedankenreise auf Papier von Felix Epper, Schriftsteller und Wahlsolothurner, die vielleicht Lust auf literarische (Wieder)Entdeckungen macht.
I
In Solothurn kam ich lesend an. Immer lesend. Die Eisenbahnfahrten von Gossau oder Zürich nach Genf und zurück reichten gut für ein Buch. Fast jede Woche zweimal dem Jura entlang auf der Durchreise den Flüssen und langgezogenen Seen – die für mich etwas Urzeitliches oder Schottisches hatten – entgegen- und darüber hinaussehnend. Vor allem bei sogenannt schlechtem Wetter vernebelte es einem die Sicht: alles mögliche Getier konnte sich nun aus den Fluten schlängeln. Aber sanft ronnen die Wassertropfen auf den Scheiben der zweiten Klasse. Ausgestiegen bin ich nie in Solothurn – jahrelang hielt ich es so. Was sollte ich auch? Meine Liebe war in Genf. Ich wusste: Peter Bichsel stand mit dem Kursbuch in der Hand am Perron 1 des Bahnhofs Solothurn. Es genügte zu wissen: Mit abgewetztem Jackett und wilder Mähne spielte er den «Mann mit dem Gedächtnis». So erinnere ich mich heute, wie ich mich damals an den Umschlag der «Kindergeschichten» erinnerte, wenn mein Zug in Solothurn hielt. Es soll Leute geben, die aus dem Ausland anreisen, um Bichsel am Stammtisch seiner Lieblingskneipe vor einem Glas Rotwein anzutreffen. Das mag wahr sein.
Zufälligkeit des Ortes: «Heimat ist hier dasselbe wie bei uns, das ist schön», schrieb Bichsel einmal nach einem Besuch an einem Ort irgendwo auf der Welt. Wenn eine Liebe zerbricht – wie meine Liebe in Genf nach hundert Büchern und Bahnfahrten zerbrochen ist – ist man überall gleich heimatlos. Besonders schmerzvoll: das Unterwegssein und das Alleinsein unter Menschen. Nur mehr Sackgassen und kein Halt mehr für zwei Minuten in Solothurn. Alles wieder lernen und vielleicht neu ankommen. Vielleicht in Solothurn. Vielleicht in Solothurn bleiben.
II
Wer ist nicht mit Bichsels Geschichten gross geworden? Ich erinnere mich: Es brauchte zuerst Überwindung, die Exlibris-Ausgabe der «Kindergeschichten» (1969) in die Hand zu nehmen mit vierzehn. Man war ja kein Kind mehr, glaubte den Titel wortwörtlich verstehen zu müssen, hatte 50 Bände Jules Verne ausgelesen, las nun, was im Bücherschrank der Eltern stand. Vor allem Buchclub-Ausgaben: Nebst Trivialem auch Alfred Andersch oder Patricia Highsmith. Günter Grass’ «Butt» und John Steinbecks «East of Eden» verstörten den Pubertierenden: glühende Nadeln durch Brustwarzen gestossen in den kalifornischen Freudenhäusern. Möglich, dass sie nicht glühend sind bei einer erneutem Lektüre, aber noch immer ist dieses Brennen untrennbar mit dem Buch und der Zeit verbunden. «Lesen ist subversiv», sollte ich später bei Bichsel, dem gescheiterten Fussballer nachlesen. Es mache einen untauglich für den Alltag. Er hatte recht.
Die «Kindergeschichten» las ich dann doch. Ich bekam sie zusammen mit Bichsels Erstling, «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» (1964) vom Vater eines Freundes geschenkt. Jener war Chefredaktor grosser Zeitungen gewesen und deshalb ein verlässlicher Ratgeber, was Literatur angeht. Bichsel war kein Kinderbuchautor. Es kam mir auch ein Aufsatz Bichsels in die Finger, der von ersten Lektüreerfahrungen berichtete und ich fing wieder Feuer, kramte wie mit acht Jahren auf dem elterlichen Estrich in den schmutziggrünen Schachteln mit fingerdickem Staub und fand zum Beispiel die kleine Bibel in Fraktur und eine noch kleinere Weltgeschichte aus dem 19. Jahrhundert. Beide Bücher begannen vor wenigen Tausend Jahren mit Adam und Eva ¬– Gott in seiner Allmacht faltete persönlich die verschiedenen Juraketten und lenkte die Aare in ihre Bahn. Diese Geschichten waren dem Kind, das eben erst die Buchstaben gelernt hatte, genauso wirklich wie die Griechischen Mythen oder die Tafel mit den Fabelwesen aus dem Lexikon, das ich auch noch nach dem tausendsten Male gebannt aufschlug. Angst machte vor allem der Lindwurm, der sich nachts am Brunnen vor dem Tore versteckte. Und ich träumt’ in seinem Schatten gar manchen bösen Traum. Ich verbannte den Lindwurm später in den Toteissee (auch den fand ich im Lexikon). Schutt lagert sich ab auf einem verlorenem Stück Gletschereis und immer wieder wird die Weltgeschichte aufgeführt, bis das Eis geschmolzen, der Schutt abgesunken und sich der See gebildet hat. Der Burgäschisee ist ein Toteissee. In Bichsels Geschichten heissen Seen meist Seen und Kneipen Kneipen, der Weissenstein ist der Berg, «Amerika gibt es nicht» und «Ein Tisch ist ein Tisch».
Die erste Begegnung mit Bichsel muss früher gewesen sein. Es war in der fünften oder sechsten Klasse, als wir «Ein Tisch ist ein Tisch» gelesen haben. Doch zu dieser Zeit schwieg man, wenn Begeisterung aufkam beim Lesen oder Zuhören. Ich war nicht der letzte auf der Bank, wenn die Kapitäne die Fussballmannschaften zusammenstellten, und ich wollte es bleiben. Das war Verrat an unserer Lehrerin. Wie konnte man ihr nicht danken für Tetzners «Schwarze Brüder», für Borcherts «Küchenuhr» und für Brechts «Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration»?
Als ich die «Milchmann-Geschichten» gestern wieder las – viel zu schnell, immer viel zu schnell - schien sich ein Nebel zu senken, unendliche Traurigkeit bemächtigte sich meiner und ich erinnerte mich an die Sonnenstrahlen im Schulzimmer der fünften oder sechsten Klasse, wenn Frau Cao mit ihrem wunderbaren bündnerisch gefärbten Hochdeutsch vorlas. Auch bilde ich mir ein, ich hätte Spuren von Tränen in ihrem Gesicht gesehen. Bichsel spricht in einem Aufsatz vom «süssen Gift der Buchstaben», Lesen ist für ihn eine Droge, Leseförderungsmassnahmen in Schulen seien deshalb höchst fragwürdig. Er hat Recht. 19 von 20 Schülern verstehen kein Wort und einer verliebt sich wegen Brecht oder Bichsel. Das konnte nicht gut kommen.
Es kam nicht gut, und so kommen wir ¬– immer noch im sanktgallischen Gossau – auf Gerhard Meier, der erst spät, nach Jahrzehnten Arbeit in einer Lampenfabrik, sich Zeit zum Schreiben nehmen konnte. Es war der Titel des Romans «Toteninsel», der mich auf Meier aufmerksam machte. Die Reproduktion von Böcklins Gemälde an der Wand in Grossvaters Mal- und Zeichenzimmer mochte schlecht sein, ein Kind noch nichts begreifen von Allegorien. Aber man sah: die Überfahrt im Kahn führte in ein wundersames Dunkel, das nicht nur Nacht und Ende war. In Grossvaters kleinem gelbem Renault war man sicher und im Wald erklärte er uns die Pilze. Reizker und Stäubling, Maronenröhrling und Hallimasch.
Gleich nach dem Abschied von der Primarschule und mit der Pubertät gerieten meine Knie aus dem Leim und die verordnete Ruhe wurde mir zur Verdammnis. Einen Sommer lang lag ich still im abgedunkeltem Zimmer – natürlich muss hier alles Körperliche übertrieben werden, um nicht 1000 Worte über eine verletzte Seele schreiben zu müssen. Nichts schmeckte mehr, am wenigsten Bücher. Und die Waldgänge zu Grossvaters Pilzen waren auf einmal schal geworden, die «Toteninsel» im Mal- und Zeichenzimmer verblich. Kurz darauf sind auch die Ölfarben auf dem Pult eingetrocknet und die Bleistiftskizzen auf der Leinwand waren fortan nurmehr Schatten einer vergangenen Zeit. Ich hatte Grossvater nicht mehr oft besucht in diesen Tagen und fühlte mich auf eine Art schuldig an seinem Schlaganfall. Alle Verwandten und Freunde sprachen von einem «Schlägli». Ich hasste dieses Wort, das Schmerz und Trauer und vor allem den Tod verhöhnte. Wenn ich an den grossen Niederbipper Schriftsteller Gerhard Meier denke, sehe ich immer meine Grossväter wandern und ich stelle mir mich selbst als alten Mann vor. Wenn ich «Ob die Granatbäume blühen» (2005)– Meiers Vermächtnis an seine Frau Dorli – lese, kommt es mir vor, ich kennte ihn schon immer. Es scheint mir dann, es wäre sogar möglich wieder eine Religion zu finden.
Das «Schlägli» lähmte meinen Grossvater nur eine Körperhälfte, sein Verstand wäre noch da gewesen und ich alt genug für eine Zwiesprache über die Lebenskunst. In Gerhard Meiers Büchern sprechen die Geister, die toten Freunde erinnern die Überlebenden an die Wortwechsel vor Jahrzehnten, die Kirschbäume blühen; die Spaziergänge von früher werden wieder und wieder abgeschritten, an der Aare, in Gedanken und auf Papier. Prousts, Tolstojs und Robert Walsers Geister wandern mit. Und auf den Wegen am Jurasüdfuss erscheinen im Sonnenlicht immer und immer wieder die Birken aus den russischen Weiten. «Die Welt existiert erst, wenn sie formuliert, in Sprache gefasst, vorliegt», schreibt Meier im Roman. «Land der Winde» (1990).
Robert Walser war um die Jahrhundertwende (1899 bis 1900) übrigens auch in Solothurn, als Angestellter der Solothurner Hilfskasse. Die erste Gedenktafel für Walser ist nicht in Berlin, Zürich, Bern oder Herisau angebracht worden, wo er weit mehr Furore machte, sondern an der Gurzelngasse 16. Für mich ein schwerwiegender Grund, Solothurn zu lieben. Walser liebte abrupte Überleitungen, und wir müssen jetzt überleiten, nämlich zu Otto F. Walter.
«Die Rache / Der Sprache / Ist das Gedicht.» Natürlich ist auch dieses Gedicht von einem «Jurasüdfuss-Autor», nämlich vom Österreicher Ernst Jandl. Jandls skandalumwitterter Lyrikband «Laut und Luise» erschien 1966 im Walter-Verlag, Olten. Er begründete Jandls Ruhm, führte aber auch zu Otto F. Walters Rauswurf aus dem Verlag, der seinen Namen trug, in dem er als Herausgeber des literarischen Programms aber faktisch keine Macht hatte.
III
«Die ersten Sätze eines Buches sind für den, der sie schreibt, vergleichbar mit den ersten Schritten eines Mannes in ein sehr weit sich dehnendes Waldgebiet. […] auf seinem Gang ins Weglose trifft der Waldgänger gelegentlich auf die Fährte eines anderen.»
Otto F. Walter hat nach seinen frühen beiden Romanen «Der Stumme» und «Herr Tourel» (1962) vor allem als Verleger gewirkt. Er landete 1964 einen Sensationserfolg mit Peter Bichsels «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» und machte den Walter-Verlag zu einer der ersten Adressen deutschsprachiger Autoren der Moderne (darunter die Schweizer Jörg Steiner, Kurt Marti und Ludwig Hohl). Er wechselte 1966 nach seinem Rauswurf zum Luchterhand-Verlag. In den 70er-Jahren widmete er sich dann ganz dem Schreiben. 1998 erschien von Martin Zingg ein wunderbares Buch mit Gesprächen, «Otto F. Walter über die Kunst, die Mühe und das Vergnügen, Bücher zu machen». Vier Jahre nach Otto F. Walters Tod, schrieb Zingg im Vorwort, sei dessen Verlegertätigkeit weitgehend vergessen. Walter werde nur noch Schriftsteller wahrgenommen. Nochmals sieben Jahre später blättert man das vollständige Verlagprogramm des Rowohlt-Verlags durch und findet gerade noch zwei Bücher von Otto F. Walter. Wie sein in schwieriger langer Freundschaft verbundener – und auch politisch ebenso engagierter – Widersacher Niklaus Meienberg scheint Walter ein Autor einer vergangenen Epoche geworden zu sein. Wer das Glück hat, Walter wieder zu lesen, findet das unverständlich. In jedem Werk wird wieder neu mit Sprache experimentiert. (Sehr gewagt in «Die ersten Unruhen» von 1972, wo Walter versuchte ohne Hauptpersonen auszukommen und einen Roman aus allen möglichen Genres von Textensorten montiert.)
Otto F. Walter war ein grosser Vermittler von Literatur; er hat immer wieder diese Fährten aufgezeigt, nun ist er selbst ein wieder neu zu entdeckender Waldgänger nicht nur als Schriftsteller oder Verleger, sondern auch als Vordenker einer anderen Welt. Schon in den 50er Jahren engagierte er sich (nota bene als einziger Offizier der Schweizer Armee) in der Anti-Atom-Bewegung. Und er war einer der wenigen wirklich politischen Schriftsteller der Schweiz. Seine Romane aus den siebziger Jahren sollten Möglichkeiten eines anderen Lebens aufzeigen. In der «Verwilderung» versuchen junge Leute, eine Wohn- und Produktionskooperative als Keimzelle einer befreiten Gesellschaft zu errichten. «Die Verwilderung» wird – zusammen mit Rolf Niederhausers dokumentarischen Roman «Das Ende der blossen Vermutung» über die Anfänge der Genossenschaft Kreuz Solothurn, der zur selben Zeit herauskam –, vielleicht in einigen Jahren oder Jahrzehnten wieder von jungen Leuten gelesen, die ihre ganz eigenen Ideen und ein neues politisches Engagement daraus ziehen werden.
Walter ist – ohne dass ich ihn persönlich kennengelernt hätte – eng mit meiner politischen Biographie verknüpft, die im Nachhinein betrachtet zwischen den Stühlen verlief. Nach Kaiseraugst und den Jugendunruhen war in den späten 80er-Jahren eigentlich Entpolitisierung angesagt. Wir damals Engagierten haben das Scheitern der Utopien von Selbstverwaltung und der ökologischen Bewegung immer schon mitgedacht in unserem Tun. Diese wunderbare romantische Anmassung der Idee, die Armee abzuschaffen! Noch einmal gewaltfreien Widerstand leisten gegen einen sinnlosen Waffenplatz!
Otto F. Walter war einer, der sehr viel später als zum Beispiel Max Frisch die Grenzen der Möglichkeiten der Literatur, politisch Einfluss zu nehmen, gesehen hat. Jedes seiner Bücher ist ein neues Wagnis und einzigartig in Form und Inhalt und widerspiegelt die Zeit. So scheint es folgerichtig, dass Walter nach dem weit ausholenden Gesellschaftsroman «Zeit des Fasans» (1988) in seinem letzten Buch «Die verlorene Geschichte» (1993) wieder eine ganz neue, vermeintlich einfache Sprache und das einfachste, schwierigste Thema überhaupt, die Liebe, findet.
Ebenso berührend wie beängstigend ist «Die verlorene Geschichte». Dem Eisenleger Paul «Polo» Ferro, der am Schluss nur töten kann, wen er liebt, gibt Walter eine Stimme, eine Sprache, nahe am inneren Monolog, verstückelt und gewalttätig, atemlos und zärtlich. Und wieder wie in fast allen Büchern Walters spielt diese verlorene Geschichte an der Aare. An der Aare, die zum Mekong wird, der den Jurasüdfuss entlang fliesst. Weil es die Liebe zum Mädchen Thai ist, die Polo verwandelt, verwandelt und verzaubert sich auch die Welt und wenn es nur für Augenblicke ist…
Erschienen Dezember 2005 in: Leben am Jurasüdfuss, herausgegeben von Daniel Gaberell, gab-Verlag, Bern.
epper - 5. Sep, 19:14
2 Kommentare - Kommentar verfassen - 0 Trackbacks