16
Sep
2006

An K. Ph. Moritz anknüpfen (Fragment)

Itzt, da er nun denselben Galgen wiedersah, an dessen Vorstellungen sich alle die süssen Erinnerungen an seine Kindheit anknüpften, wurde er plötzlich von einer un | aussprechlichen Wehmuth erfüllt – was damals blühte, fing nun schon an zu welken – und was damals welkte, war nicht mehr –
Karl Philipp Moritz, Andreas Hartknopf. Stuttgart 2001, Seite 39f.

Mit wem soll ich übers Anknüpfen in dieser grandiosen Passage sprechen? Wer teilt meine Begeisterung für solch’ Entdeckungen. Die lokalen Schriftkundigen (ich ironisiere, wie Sie sehen, denn es gehören wahre Könige dazu) lächeln mich vielleicht an und sagen: Ja, der Moritz, ja, ja der Hartknopf, wenn der mehr Leser hätte… Aber will man das überhaupt? Man ist eifersüchtig als Leser, sagen mir die Schriftkundigen dieser Stadt, und auch ich möchte nicht meine Existenz in ein Gespräch über Moritz legen und dann Unverständnis ernten, Lachen gar. Ich kenn’ als Literat den einen oder anderen Lehrer dieser Stadt. Man gibt sich hier wie von Welt und nennt sich Professor, auch wenn’s nur eine lausige Kleinstadt von 15'000 Seelen ist. Ich fahre mit der Strassenbahn, um den Professoren möglichst nicht zu begegnen. Ich muss ja ständig ein Buch dabeihaben, und in der Strassenbahn von A nach B, neben mir mein Spiegelbild in der Scheibe, lesen sich die kleinen Bücher, die ob meinen Anstreichungen immer so bleischwer werden, so ganz professorenfrei. Fast vermisst man dann nicht einen Freund, der mitanknüpfen wollte und verbinden Einsamkeiten, Lieben u. dgl. mehr.
Moritz bewegt mich. Aber er macht mich mehr staunen, als er mich rührt (in der Seele, um eine Metapher zu gebrauchen), sagte ich dann zu meinem Freund der Literatur und er würde nicht anders können, als dem zustimmen. (Natürlich nicht, es ist eine Ketzerei, NICHT gerührt zu sein, sagt jeder, der den Anton Reiser gelesen hat.) Ein Zustand der intellektuellen Angeregtheit, doziere ich nun schon ziemlich laut, vergleichbar mit einer stumpfen Zufriedenheit, die aber erarbeitet und nicht erlitten sei…
Wer schreibt denn nicht übers Heimkommen? Seit Stiller, werfe ich den Professoren an den Kopf, spukt das in den Köpfen der Schweizer Schriftgelehrten – ich gebe den ganzen Stiller für diesen einen Galgen. Ich sehe, ich erschöpfe Sie, werter Herr Professor, ich ermüde Sie, lieber Freund, und fange doch erst an zu denken, ich habe meine Fachwörter gelernt, die kommen schon noch… schauen Sie mich nur nicht so böse an, ich verbeuge mich doch nur. Kein Jota füge ich hinzu, will keine Höllen=Qualen erleiden, ich kenne die Drohung des Heiligen Johannes aus der Offenbarung… Erledigt, meine Herren.
Ich habe meine Doktorarbeit über den Moritz nie geschrieben, bin nie über das unselige Zettelkastenstadium ausgelangt, habe mit der Zeit auch gar nicht mehr denken können. Zuerst nichts mehr über Moritz denken können, dann über gar nichts mehr, ausser noch, dass du mir einst in einer Sommernacht aus dem Anton Reiser vorgelesen hast. Es war am Steg des kleinen Teiches in der anderen Kleinstadt, aus der ich stamme, gewissermassen. Du fandest dein ganzes Ich in diesem damals schon zweihundet Jahre alten Buch. Der Versuch einer Freundschaft mit dir konnte nur scheitern, doch es zirpten schon fast die Grillen wie im Süden, es war ein Frühlingsabend, die schon den Sommer ahnen ließ. Der unverhofft geschenkte Sommer im Frühling ist der einzige, den ich auch heute noch ertrage. Und der späte April war mir immer der schönste Monat, weil man nichts erwarten konnte: nicht einmal belaubte Bäume waren uns versprochen.
Night of the living dead

lieber epper als niemert

Betrachtungen. Manchmal Urteile.

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