24
Nov
2004

Meine Stadt, meine Nacht

Überarbeitete Fassung des 2000 im Magazin der Zürcher Kantonalbank erschienenen Textes

Ein verfrühter Sommer ist eingefallen und lässt die Stadt schwitzen. Rosa Bratwurstpapier liegt im Rinnstein, schwer atmet die Langstrasse, die doch noch in einen kurzen Schlaf gefallen ist. Die letzten Roten Lichter gehen aus, eine zufällige Strasse mehr auf meinem Weg, ich bin nun eine halbe Stunde lang unterwegs – Richtung Morgendämmerung. Die Sternschnuppen im Herbst, das Nordlicht im späten Winter: so viele Gründe gäb’s, nachts das Bett zu verlassen. Natürlich sind die Nächte auf dem Land grösser, wo keine Strassenlampen blenden, keine Autos stören und auch die Kühe schlafen. Aus den einsamen Bündner Tälern blickten wir hinaus in die Unendlichkeit, zu Sternen, die längst tot, doch noch strahlten und funkelten. In Zürich stehe ich nicht gern auf in der Nacht – sogar im Sommer fällt es schwer. Wie Blei ist die Hitze. Man erhofft sich Regen und tausend Tode sollen die Mücken sterben. Bin ich aber einmal draussen, machen sich die Füsse selbständig. Fast glaube ich, die Augen schliessen zu können mitten auf der Strasse, ohne Angst. Die letzten Taxis sind gefahren, der letzte Imbiss um vier Uhr morgens gegessen. Der Text liest sich so, als gäbe es die moderne tanz- und festfreudige Jugend nicht, die sich rund um die Uhr erhitzt, wieder auskühlt und erneut aufpeitscht. Es ist aber wahr: Heute treffe ich keinen von denen – lassen wir sie in den Betonbunkern eingesperrt und gehen schnell weiter. Noch immer sind Steine, Beton und Asphalt warm – der Sommer hat sich in jede Ritze eingebrannt. Von den Dächern und Balkonen dringt der Schlaf schwerer massiger Männer – doch ich sehe nur eine Deutsche Dogge mit halboffenem Maul… Vor den verschlossenen Toren des Schulhofes warten jetzt schon die ersten Händler mit ihrem Trödel, stelle ich mir vor und schliesse die Augen – ich meide den Flohmarkt seit ich dort immer wieder alte Schreibmaschinen finde und nicht anders kann, als sie zu kaufen: Zwei Hermes Baby, eine Olivetti Lettera, eine Remington Monarch. Das sind die Zauberwörter, Zaubermaschinen. Ein leeres Blatt eingespannt, einen Satz von Max Frisch getippt oder eine Erinnerung an die Hermes Baby meines Grossvaters. Ganze Schlachtfelder entstanden dort auf dem Papier. Kompanien stramm ausgerichtet, die Sterne an der Brust des Generals und die Federn auf den Köpfen der Krieger. Gewehre und Streitäxte wirbelten wild herum. Die kleinen Köpfe und Leiber, die «os» und «Os» rollten und manchmal klagten die Indianer unverständliche Lautfolgen… «qwert», «ghjk», «xcvbnm». Ich konnte nichts schreiben als meinen Namen. Den setzte ich, wenn alle tot waren, unten aufs Blatt: «FELIX» der letzte Überlebende, der letzte Mohikaner.
Ich höre nur noch Tiere: Vögel, Hunde, Igel. Keine Menschen mehr. Ich gehe und schlafe gleichzeitig, habe keine Angst mehr vor den Autos. Ich werde mich langsam in den See fallen lassen, noch bevor die ersten Sonnenstrahlen aufs Wasser treffen, stelle ich mir vor. Auch den Paradeplatz überquere ich mit geschlossenen Augen. Die Tonnen Gold unter mir ziehen meine geringe Masse an sich. So schwer, so schwer... Genau so stelle ich mir den Eingang zum Jenseits vor: Der sagenhafte König Midas, der alles, was er berührte in Gold verwandelte und daran zugrunde ging, sitzt am Schalter, legt fürsorglich den Arm auf die Schulter und fragt nach den Wünschen der armen Seelen... hat man gewählt, so steigt man tiefer und tiefer hinab, bis das edle Metall zu schmelzen beginnt. In eine hübsche kleine Formen gegossen und erkaltet finden sich die Wiedergeborenen im Himmel der Schweiz. Eine Hölle gibt es nicht, und leider machen sie die Typen der Schreibmaschinen nicht aus Gold.
Vor gut hundert Jahren ist man in gewaltigen Spaziergängen von Zürich in den Berner Jura oder nach Genf marschiert. Die enge Spiegelgasse hinab, noch bevor Lenin nach Russland aufbrach und die Dadaisten die Sprache und die Kunst revolutionierten, eilten die Wanderer auf ihren genagelten Schuhen. Und weiter durch die in den Wald hineinverwachsenen Aussengemeinden und auf das flache Land hinaus. Wer auf einem Spaziergang stirbt, wird ein wandelnder Geist, sagt der Volksmund. Wer von Schnee bedeckt und mit lächelnden Lippen einschläft, wird nimmermehr sterben, sondern in den Köpfen weiterspuken.
Mich wundert gar nichts mehr. Die Lindenbäume duften und niemand pflückt die Blüten. Das Wasser des Sees ist still. Behutsam entkleide ich mich. Keine Menschenseele sieht mich. Manchmal durchstreift man die Stadt auf der Suche nach seiner Liebsten, vermeint ihren Schlaf zu hören, horcht angestrengter und lässt sich dann mehr traurig und verliebt als froh in den See gleiten. Doch heute ist es so schön, so wunderschön, dass ich nicht einmal mehr weiss, ob ich schwimmen kann. Ich lasse mich nur treiben auf dem Rücken, zuerst unter mächtigen Bäumen, dann nur noch den offenen Himmel über mir... und warte auf das lang, lang ersehnte Gewitter. Als von weither ein Käuzchen schreit, sehe ich, wie sich die erste dunkle Wolke über mich schiebt. Die Stadt wird wieder erwachen.
Prosa

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Night of the living dead

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