Gebrochen fröhlich
Als meine Mutter im Sterben lag, fuhr ich jeden dritten Tag oder so am Morgen stundenlang Zug Richtung Osten und am Abend denselben Weg wieder zurück. Auf der Intensivstation des Spitals nahm ich jedes Mal stumm Abschied. Nur eine Frage der Zeit, bis die Nacht hereinbricht. Und nie wusste ich, ob sie noch verstehen konnte, was ich sagte… Ich hörte damals viel Radio auf meinen Wegen. Dylans “Theme Time Radio Hour” schien mir der richtige Trost: Nicht Ablenkung, sondern Tiefe. Dylan spielte seine meist obskuren Schallplatten und erzählte kurze Geschichten über die Bibel, das Rauchen, Schuhe, Amerika, das Zugfahren – das Trinken. Am liebsten ist mir auch jetzt noch die Show über das Trinken (u. a. mit herzergreifenden Liedern von Charles Aznavour und Mary Gauthier). Mama wüsste wieso. Inmitten der Lieder eine mit allen Wassern und Wässerchen gewaschene Stimme, ebenso fröhlich wie gebrochen, ebenso alt wie jung, die nur zu mir zu sprechen schien. Eine Anmassung, die ich mir gerne und unter Tränen erlaubte.
Aus “Chronicles” und Martin Scorseses Film “No Direction Home” wissen wir, wie wichtig das Radio für den jungen Bob Dylan gewesen ist, der die Musik, die er hörte, wie ein Schwamm aufgesogen hat. Natürlich hat es eine höchst ironische Note, dass uns Dylan mit seinen durchchoreographierten Radioshows eine vergangene Welt und Produktionstechnik vorgaukelt. Doch die Trauer über den Verlust einer wohl auch nur vorgestellten Ursprünglichkeit und Authentizität ist ein steter, leiser Unterton. War es aber mit seinen eigenen Songs je anders, die er 2001 in einem wunderbaren Spätwerk ganz offiziell unter das Motto “Love And Theft”, Liebe und Diebstahl, gestellt hat? Dylan ist ein Künstler, der durch keine kritische Analyse entzaubert werden kann, weil sein Werk von Anfang an als Synthese gedacht war. Ausser wir fragen den Mann auf der Strasse, welcher anstelle einer Antwort die Lippen hochziehen und näselnd “The answer my friend is blowing in the wind” singen wird. Honni soit qui mal y pense.
Allen noch nicht hartgesottenen Dylanhörern empfehle ich meine momentane Lieblingsplatte, die “Tell Ol' Bill Sessions” (Bootleg, 2005), auf der die Genese eines Songs – und was für ein Song! – wunderbar mitverfolgt werden kann und bei deren Hören ich mir immer wünsche, nicht nur schreiben, sondern auch spielen zu können.
Felix Epper, April 2011
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Natürlich kann man sich auch wochenlang auf die neue Scheibe von "Iron Maiden" freuen (dä Gustibus isch nöd dischtputandur, wie der Laddiner sagt). Ich habe mich eben auf Dülens "Modern Times" gefreut, wie auf Weihnachten damals als 6-Jähriger, und vielleicht war auch jetzt die Vorfreude noch es bitzeli schöner als die Nachfreude. "Ain't talkin'" ist ein grossartiger Song (wie fast immer der letzte Song einer Dylan-LP), aber ein oder zwei Balladen sind eindeutig zuviele, der Spannungsbogen ist etwas flach. Und: Die allgemeine Begeisterung der Presse und der Dylanologie im wöwöwö macht doch misstrauisch. Statt "Modern Times" höre ich jetzt "New Morning", genauso altmodisch, aber mit mehr Überraschungen und einigen Brocken Religion ("Three Angels", "Father of Night"), an denen ich zu kauen habe; es schmeckt verdammt süss. Habe übrigens über den Kauf von "New Morning" jahrlang nachgedacht; irgendwann werde ich mir auch "Self Portrait" kaufen müssen, das meistverachtete Dülen-Album.
