Kapitel 16
Anna zählte die Reihen der Ziegelsteine des Wohnblocks. Sie kam nie bis zur 14. Etage. Die Ziegelsteine waren grob gefügt, Mörtel quoll aus den Ritzen, wenn man eilig an den Mauern vorbeiging, konnte es passieren, dass man sich die Ellbogen blutig riss und dann kleine graue Splitter herausklauben musste. Maria hatte Angst vor porösen Baustoffen gehabt. Tuff ist am schlimmsten, sagte sie einmal. Im alten Tuff sind Knochen, Gebeine, ganze Skelette verborgen, die Wind und Wetter langsam freilegten. Ich kann nicht zu nahe an Menschen herangehen. Beim Küssen habe ich immer die Augen geschlossen, um nicht die groben Poren im Gesicht zu sehen, die talggefüllten Löcher, die roten Äderchen, die feinen Haare auf der Nase.
Es gibt Menschen, die lieben es, mit Grashalmen, Schnurrhaaren von Katzen oder auch den blossen Finger den Körperlandschaften des Geliebten abzusuchen, hatte darauf Anna gesagt. Dass sie solche Liebkosungen liebte, wollte sie ihrer Freundin nicht verraten. Ja, das war mein Elternhaus, sagte sie stattdessen. Sie hatte sich die Plätze ihrer Kindheit gezeigt. Der Wohnblock an der Eisenbahnlinie war nun mit farbigen Platten verkleidet und isoliert, nichts deutete mehr auf die Ziegelsteine hin. Im 14. Stock stand ein Fenster offen. Das war mein Kinderzimmer, hatte Anna gesagt und sie sah sich fallen, fallen, fallen und drückte die Hand ihrer Freundin fester in die ihre.